Eine Lust auf Kunst und Zukunft

Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst: Das Ende eines einzigartigen Projektes –

Die zweite Auflage ist 2011 in einem westdeutschen Bundesland geplant

Berlin, 19.10.2009 – Nein, ein Reiterstandbild ist es nicht geworden. Mit ganz eigenwilligen Kunstwerken verabschieden sich die vier Künstler aus den Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern, in denen sie ein halbes Jahr lang gelebt und gearbeitet haben. Sie ließen sich in ihrer künstlerischen Arbeit von den Menschen und der Landschaft beeindrucken und regten Diskussionen darüber an, was Gegenwartskunst überhaupt ist. Keiner der Künstler bediente die tradierten Vorstellungen von einem dauerhaften Werk und schuf ein Gemälde oder eine Statue. Die vier Künstler arbeiteten in den Gemeinden Ferdinandshof (Leni Hoffmann), Grambow bei Schwerin (die Reinigungsgesellschaft RG mit Henrik Mayer und Martin Keil) sowie in Lelkendorf (Rolf Wicker). Sie waren die ersten Teilnehmer des Projektes „Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst“ der Deutschen Stiftung Kulturlandschaft, das im Januar startete und jetzt sein Ende fand.

Dorf und Kunst, miteinander konfrontiert und miteinander im Gespräch — das ist die  Konzeption dieses Projektes „Kunst fürs Dorf – Dörfer für  Kunst“, die jedes Dorf für sich in die Tat gesetzt hat. Dass sich die Gemeinden den Künstler ausgewählt und ins Dorf geholt haben, ihm kostenlos eine Wohnung und ein Atelier zur Verfügung stellten, ist einzigartig in Deutschland.

Die Projektförderung der Deutschen Stiftung Kulturlandschaft hat den Bürgermeistern die Möglichkeit eröffnet, sich frei von finanziellen Zwängen ein künstlerisches Ereignis zu leisten, das Bezug auf das Leben im ländlichen Raum nimmt. Die Künstler und ihre Werke haben zu Diskussionen in der Bevölkerung über die Zukunft ihres Dorfes geführt, das Dorf als Raum thematisiert, die Phantasie und Neugierde der Bewohner angeregt und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

In den drei Dörfern wurde heftig diskutiert. Die einen hielten das Ganze für Unfug, gingen aber „wenigstens mal gucken“. Die anderen stritten über Kunst und den Künstler. Die wenigsten sagten, das sei Kunst, was da gerade geschehe, aber es fand ihr Interesse, und sie waren neugierig. Und immer die entscheidende Frage: Was hat das mit uns und mit unserem Dorf zu tun? Erstaunlich war die Offenheit der beteiligten Dörfer gegenüber der Gegenwartskunst und erstaunlich die Klarheit, Konsequenz und Ernsthaftigkeit der Künstler, die Menschen vor Ort in ihre Arbeit einzubeziehen und ihnen tiefe Einblicke in ihre künstlerischen Sichtweisen zu geben.

Bildergeschichten und Holz: Leni Hoffmann zu Gast in Ferdinandshof

Leni Hoffmann zeigte in Ferdinandshof großformatige Fotos im Dorf und nannte diese Aktion „kort un wiet“ – nah und fern. Auf einer Backsteinwand am Postplatz brachte sie Großfotos mit Motiven an, die sie in und um Ferdinandshof aufgenommen hatte und die auf den ersten Blick banal erschienen. 200 Meter weiter, auf einer Holzwand an der Bushaltestelle vor der örtlichen Grundschule, hingen großformatige Fotografien von entfernten Gegenden, die Leni Hoffmann während ihrer Reisen aufgenommen hatte, die aber nicht weniger alltäglich wirkten. In der Beziehung zueinander entstanden Bildräume, in denen gewöhnliche Orte entrückt und ferne Orte vertraut wurden.

Zum Abschluss ihres Arbeitsaufenthaltes realisierte Leni Hoffmann in Ferdinandshof ihre beiden Kunstprojekte „simson“ (Aluminium/Eiche/Kiefer/Fichte/Sand) und „lakritze“. So nennt die Künstlerin mehrere farbige Gebilde aus Steinzeug, die sie in den Asphalt der Straße der Freundschaft eingelassen hat. Simson ist ein Holzstapel auf dem Gelände des ehemaligen Gutshofes, der mit heißem Aluminium überzogen wurde. Dazu hatte Hoffmann mit den Mitarbeitern des gemeindeeigenen Bauhofes  Eichen-, Fichten- und Kiefernstämme aus dem Wald geholt und übereinander schichten lassen. In einem personell und technisch aufwendigen und zugleich spannenden Ablauf wurde das auf 700 Grad erhitzte, flüssige Aluminium als silbrig glänzende Masse über den Stapel geschüttet. Die notwendige Hilfe durch die örtlichen Handwerker und die Freiwillige Feuerwehr erweiterte die Komplexität der künstlerischen Arbeit. Als der Aluminiummantel über dem Holz erstarrte, gehörte der künstlerische Vorgang bereits der Vergangenheit an. Seit dem Erkalten zeigt sich ein Überguss, der durch eine Vielzahl von Tropfen, Spritzern und Lachen zufällige Formen offenbart und die wechselnden Farben und Bewegungen des Ortes und des Himmels widerspiegelt. Das Kunstwerk entsteht im Zusammenspiel mit seiner Umgebung und im Kopf des Betrachters.

Bildunterschrift: Leni Hoffmann, Simson, Remontehof, Aluminium/Eiche/Kiefer/Fichte/Sand

Leitsystem zum Neuen: Reinigungsgesellschaft zu Gast in Grambow

„Was müsste sich verändern?“, fragte die Reinigungsgesellschaft (Martin Keil und Henrik Mayer) die Grambower im März 2009 und verteilte dazu an alle Haushalte im Ort einen Fragebogen. Einen Monat später lagen die Ergebnisse vor. Daraus entwickelten die Dresdner ein „Leitsystem zum Neuen – Grambow 2057“, das die Ideen und Vorschläge für ein besseres Landleben in farbenfrohen Piktogrammen bildhaft macht. Auf zwölf Verkehrsschildern geht es um Klimawandel, die demographische Entwicklung, Arbeitsplätze, eine altersgerechte Infrastruktur und den Schutz kommunaler Souveränität. „Unser Leitsystem bietet Orientierungspunkte zum gesellschaftlichen Handeln“, erklären Martin Keil und Henrik Mayer ihr Vorgehen. Die Reinigungsgesellschaft vertraut so sehr der Kraft der Bilder, dass die Schilder die höchste Reflexionsklasse besitzen, die nur bei Verkehrsleitsystemen auf den Autobahnen zu finden ist. Und sie vertrauen auf die Kraft der symbolischen Kommunikation, mit der gesellschaftliche Themen sichtbar und verhandelbar gemacht werden sollen. Keil und Mayer versuchen mit fast spielerischen Praktiken, gesellschaftspolitische Themen zu inszenieren, um damit auf demokratische Handlungsoptionen hinzuweisen.

Bildunterschrift: Reinigungsgesellschaft,
Leitsystem zum Neuen – Grambow 2057

Kleinste Kunsthalle Deutschlands: Rolf Wicker zu Gast in Lelkendorf

Der Berliner Künstler Rolf Wicker hat mit einem symbolischen Blitzeinschlag das Ende der Temporären Kunsthalle und seiner Arbeit in Lelkendorf markiert. Bleiben werden den Lelkendorfern vier Beobachtungsstände aus Holz, die sich erst auf den zweiten Blick als begehbare Skulpturen  offenbaren. Aus einem Holzstapel, einer weißen Torwand, einer Infotafel und einem alten Garagentor werden architektonische Treff- und Aussichtspunkte, in die sich der Besucher setzen kann, um in dem ausgelegten Hefter „Jäger und Sammler“ zu lesen oder durch ein Loch in die Umgebung zu spähen, ohne selbst gesehen zu werden. In dem Hefter hat Rolf Wicker Gesprächsfetzen notiert, die er während seiner vielen Begegnungen mit den Lelkendorfern aufgeschnappt hat. Indem der Künstler in seinen „Bauwerken“ zum Verweilen einlädt, zum Lesen auffordert, Durchblicke und Aussichten anbietet und den Besucher zum Mitspieler macht, hat er nicht allein „einen Körper mit Innenraum“ in das Dorf gesetzt, sondern die Perspektive umgedreht und mit Blick aus dem Körper heraus das Dorf als Raum thematisiert. Temporäre Kunsthalle Lelkendorf Wickers „Temporäre Kunsthalle Lelkendorf“ präsentierte ein halbes Jahr lang herausragende und international tätige Künstler in dem Dorf. Zu sehen waren sieben Ausstellungen mit spannenden Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Dafür baute Rolf Wicker das ehemalige Pförtnerhäuschen des längst geschlossenen „Kreisbetriebes für Landtechnik” aus, ließ es vom Berliner Künstler Pfelder in eine überdimensionale Kiste für Kunsttransporte verpacken, von der Freiwilligen Feuerwehr von Lelkendorf wieder auspacken und lud die Künstler Rainer Ecke, Jörg Schlinke, Katja Pudor, Leni Hoffmann, Matthäus Thoma und Jan Philip Scheibe ein, sich mit ihrer Arbeit auf die besondere Situation in der kleinsten Kunsthalle der Welt einzulassen. Der Innenraum war nicht begehbar, die Besucher konnten nur durch die Scheiben in das Innere der Kunsthalle schauen.

Bildunterschrift: Rolf Wicker, Beobachtungsstand „Garage“

Das Projekt

Mit ihrem im Januar gestarteten Projekt will die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft über die Kunst Interesse an den Themen Landwirtschaft, Landschaft und Leben auf dem Lande wecken. Bis Ende Oktober lebten und arbeiteten vier hochkarätige Künstler in Mecklenburg-Vorpommern, um im Dialog mit den Dorfbewohnern ein Kunstwerk für „ihr Dorf“ zu schaffen. Ort des Geschehens war nicht das Atelier des Künstlers, sondern das Dorf selbst. Jedes der insgesamt drei Kunstprojekte hat die Stiftung mit 20.000 Euro finanziert.

Die Stiftung

Die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft mit Sitz in Berlin, im November 2006 ins Leben gerufen, vereint Akteure aus der Landwirtschaft, dem Naturschutz, der Politik und der Wirtschaft. Um die Landflucht in Deutschland zu stoppen und die mittelständische Wirtschaft in den Regionen zu halten, will die Stiftung privates Kapital mobilisieren und damit beispielhafte Ideen und Projekte im ländlichen Raum fördern.